Offener Brief Mehr Demokratie e.V.
Wir unterzeichnen den offenen Brief für Dialog und Beteiligung: Gemeinsam handlungsfähig in herausfordernden Zeiten
Sehr geehrte Verhandlerinnen und Verhandler des Koalitionsvertrages,
Sie stehen vor keiner leichten Aufgabe. Wir leben in einer Zeit voller komplexer Krisen, die koordiniertes Handeln erfordern. Um sicherzustellen, dass bei der nächsten Bundestagswahl wieder eine Regierung aus Parteien der Mitte gebildet werden kann, müssen positive Veränderungen sichtbar werden. In kurzer Zeit werden Sie also umfassende, wirkungsvolle und gesellschaftlich tragfähige Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit finden und verantworten und dabei unseren Staat modernisieren und entbürokratisieren müssen.
Wir Unterzeichnenden sind überzeugt, dass Sie die Bürgerinnen und Bürger strukturiert und transparent in Ihre Regierungsarbeit einbeziehen sollten, wenn Sie der Größe Ihrer Aufgabe gerecht werden wollen.
In der Wirtschafts- und Sozialpolitik, im Klimaschutz sowie der Migrations- und Sicherheitspolitik stehen mutige und einschneidende Entscheidungen an, die großes Konfliktpotential bergen. Gerade in Zeiten gezielter Desinformation und polarisierender Kampagnen vonseiten der lauten Ränder ist es zentral, die Stimme der Mitte zu stärken und gegenseitige Verständigung zu ermöglichen.
Aus der Wirtschaft wissen wir: In unserer modernen Gesellschaft sind flache Hierarchien, ko-kreative Prozesse, Offenheit für innovative Lösungen, Mitbestimmungsmöglichkeiten für Beschäftigte und eine konstruktive Fehlerkultur der Schlüssel zum Erfolg. Formen der dialogischen Beteiligung übertragen diese Ansätze erfolgreich in den politischen Raum. Die „Politik des Gehörtwerdens“ in Baden-Württemberg ist dafür ein Beispiel mit nachweisbarem Erfolg.[1]
Michael Kretschmer konnte in Sachsen die letzte Landtagswahl auch deswegen für sich entscheiden, weil er auf eine Politik des Dialogs setzt, die er im neuen Koalitionsvertrag als leitendes Prinzip festgeschrieben hat.[2] Bürgermeister und Bürgermeisterinnen machen überall in Deutschland die Erfahrung, dass sich Probleme am besten gemeinsam mit der Bevölkerung anpacken lassen.[3]
Natürlich ist dialogische Beteiligung kein Allheilmittel für die komplexen Herausforderungen unserer Zeit. Nicht in allen politischen Fragen ist eine breite Beteiligung notwendig. Doch sie kann ein wichtiger Baustein für die Modernisierung unseres Staates und effektive Problemlösung sein. Gerade dort, wo grundlegende Weichen für die Zukunft gestellt werden, wo Bürgerinnen und Bürger direkt betroffen sind, wo politische Kräfte innerhalb der Regierung keine Einigung finden, oder wo Werte- und Verteilungsfragen neu verhandelt werden müssen, kann sie einen entscheidenden Beitrag leisten. Konkret schlagen wir Ihnen vor:
- Entwickeln Sie als Koalition einen klaren Mechanismus für den Einsatz dialogischer Beteiligungsformate – sei es, um bei strittigen Themen eine gemeinsame Entscheidungsgrundlage zu finden, oder um frühzeitig Ideen und Lösungsvorschläge aus der Gesellschaft zu sammeln. Ob Sie dann Dialogbeiräte mit zentralen Stakeholdern, zufallsbasierte Bürgerforen, Dialogformate im Wahlkreis [4] ko-kreative Workshops mit Betroffenen oder Jugendbeteiligung einsetzen, entscheiden Situation und Bedarf. Erfahrungen zeigen, dass Kombinationen von Bürger- und Stakeholder-Dialogen oft besonders wertvolle Impulse liefern.[5]
- Nutzen Sie die Erfahrungen und Kompetenzen in Parlament und Regierung. Verschiedene Bundesministerien und der Deutsche Bundestag haben in den vergangenen Jahren erfolgreich Verfahren der dialogischen Beteiligung umgesetzt. Diese Erfahrungen können Sie an zentraler Stelle im Bundestag oder Bundeskanzleramt bündeln, um sinnvolle beratende Beteiligungsverfahren umzusetzen, die den Qualitätsstandards guter Beteiligung genügen.[6]
- Unterstützen Sie Beteiligung in Ländern und Kommunen. Führen Sie die bereits begonnene Vernetzung zwischen Bund und Ländern zum Erfahrungsaustausch und Kompetenzaufbau sowie zur Identifizierung gemeinsamer Projekte fort und stellen Sie ausreichend Ressourcen für Kommunen bereit, damit diese vor Ort wirksame Beteiligungsverfahren durchführen können. Organisieren Sie ein bundesweites Netzwerk der lokalen Beteiligungsbeauftragten und stellen Sie Kompetenzaufbau und professionelle Begleitung sicher.
Dialogische Beteiligung wirkt – das belegen zahlreiche Erfahrungen in Deutschland und weltweit: Verfahren wie die Kohle-Kommission zeigen, dass dialogische Beteiligung dort Lösungen ermöglicht, wo die Politik ins Stocken gerät – und so die etablierten Institutionen wirkungsvoll ergänzt. Frühzeitige, informelle Bürgerbeteiligung bei Bau- und Infrastrukturprojekten spart Zeit und Kosten.[7] Auch der Verein Deutscher Ingenieure (VDI) betont in seiner Richtlinie 7001 die Bedeutung frühzeitiger Bürgerbeteiligung für die erfolgreiche Umsetzung von Infrastrukturprojekten.[8] Irlands wirkungsvolle Citizens’ Assemblies haben Wolfgang Schäuble dazu inspiriert, ähnliche Verfahren in Deutschland zu erproben. Aus den Evaluationen zahlreicher Verfahren wissen wir: Dialogische Beteiligung erhöht das Verständnis für politische Entscheidungsfindung und stärkt das Vertrauen in die Demokratie und unser demokratisches Miteinander – und das nicht nur bei den direkt Beteiligten.[9] Auf breiter Basis wirkt diese Vertrauenssteigerung in die Gesellschaft hinein und macht uns gemeinsam handlungsfähig.
Demokratie bleibt stark, wenn sie die Betroffenen einbezieht und faire Prozesse garantiert. Wenn Politik als gemeinschaftliche Aufgabe verstanden wird, kann sie langfristig tragfähige Lösungen hervorbringen und Vertrauen erhalten.
Wir hoffen, dass Sie in den Koalitionsverhandlungen mutige Kompromisse zur Stärkung der Zukunftsfähigkeit Deutschlands finden und fordern Sie auf: Setzen Sie auf die Chancen, die eine dialogische Beteiligung der deutschen Bevölkerung genau dafür bietet.
Eine ungewöhnliche Allianz für Demokratie, Dialog und Beteiligung
Folgende 55 Personen haben unterzeichnet:
- Olaf Bandt | Bundesvorstand BUND
- Ottilie Bälz | Bereichsleiterin Globale Fragen Robert Bosch Stiftung GmbH
- Jacob Birkenhäger | nexus Institut
- Hans-Jörg Birner (CSU) | Bürgermeister Kirchanschöring
- Dr. Joachim Bläse (CDU) | Landrat Ostalbkreis
- Dr. Mareike Blum | Referentin beim Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU)
- Prof. Dr. Fritz Böhle | Universität Augsburg, Leiter Forschungseinheit für Sozioökonomie der Arbeits- und Berufswelt | ISF München
- Dr. Franziska Brantner | Parlamentarische Staatssekretärin im BMWK | Bundesvorsitzende Bündnis 90/ Die Grünen
- Prof. Dr. Babette Brinkmann | TH Köln, Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften, Institut für Geschlechterstudien
- Michael Cerny (CSU) | Bürgermeister Amberg
- Leonie Disselkamp | Projektleitung Machbarkeitsstudie Deliberative Beteiligung im Klimaschutzgesetz
- Dr. Rupert Ebner | 1. Vorsitzender Slow Food Deutschland e.V.
- Gisela Erler | ehem. Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung des Landes Baden-Württemberg
- Forum der Bürgerräte | Urte Stahl, Martin Coordes, Tim Weyrauch
- Prof. Dr. Brigitte Geißel | Goethe-Universität Frankfurt a.M., Leiterin der Forschungsstelle ‚Demokratische Innovationen‘
- Gemeindeinitiative.org | Paul Ulbrich
- GLS Treuhand | Dr. Hermann Falk, Vorstand und Rechtsanwalt (Syndikusanwalt)
- Prof. Dr. Maja Göpel | Politökonomin, Transformationsforscherin, Mitbegründerin Scientists4Future, Gründerin Mission Wertvoll
- Regina Görner | Vorsitzende BAGSO Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen e.V.
- Dr. Christopher Gohl | Weltethos-Institut an der Universität Tübingen
- Prof. Dr. Kathrin Goldammer & Dr. Ing. Christine Kühnel | Geschäftsführerinnen Reiner Lemoine Institut gGmbH
- Sylvia Hirsch | Senior Projektmanagerin, Demokratie, Robert Bosch Stiftung GmbH
- Prof. Dr. Wolfgang Ismayr | Institut für Politikwissenschaft der TU Dresden, Leiter Forschungsstelle Parlamentarismus | Mitglied der Kulturpolitischen Gesellschaft
- PD Dr. Ansgar Klein | Herausgeber FJSB Forschungsjournal Soziale Bewegungen
- Sebastian Klein | Unternehmer, NN Publishing GmbH
- Lausitzer Perspektiven | Dagmar Schmidt & Yvonne Mahlo (Vorstand)
- Dr. Markus Lemmens | Herausgeber „Wissenschaftsmanagement“
- Heiko Lietz | Büro für Menschenrechte Schwerin
- Dr. Michael Lohnherr | Volt
- Prof. Dr. Dirk Messner | Präsident Umweltbundesamt
- Patrick Müller
- Dirk Neubauer | Dorf.Energy
- Dr. Ralph Neuberth | Institut für Jugendarbeit
- Claudine Nierth | Bundesvorstandssprecherin Mehr Demokratie e. V.
- Christian Penninger | Spitzenkandidat Volt Bayern & Direktkandidat Nürnberg-Nord Bundestagswahl 2025
- Janosch Pfeffer | Politikwissenschaftler an der Leuphana Universität Lüneburg
- Jean Pütz | Wissenschaftsjournalist und Fernsehmoderator
- Prof. Dr. Dr. h.c. Ortwin Renn | Institut für Transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS)
- Jascha Rohr | Geschäftsführer IPG Institut für Partizipatives Gestalten
- Uta Rüchel | Projektleitung „Bürgerräte für Mecklenburg Vorpommern“
- Sr Susanne Schneider, Sprecherin OrdensFrauen für MenschenWürde
- Prof. Dr. Uwe Schneidewind (Bündnis90/Die Grünen) | Oberbürgermeister Wuppertal
- Tanja Schnetzer | miteinander.zukunft.gestalten | BR Durchführende Kirchanschöring & Bauernrat
- Marian Schreier | Bürgermeister a.D.
- TELI Technisch-Literarische Gesellschaft) e.V. | Arno Kral, Vorstand
- Katja Treichel-Grass | Expertin für Beteiligung in der Wissenschaft
- Dr. Corina Toledo | Politikwissenschaftlerin, Erste Vorstandsvorsitzende frau-kunst-politik
- Christoph Trautvetter | Geschäftsführer Netzwerk Steuergerechtigkeit
- Harald Uphoff | 100 Prozent erneuerbar Stiftung
- Simon Wehden | Klimamitbestimmung e. V.
- Thomas Wieldling | Autor Grundsatzprogramm Volt
- Prof. Dr. Wimmer | Ludwig-Maximilians-Universität München, Institut für Ägyptologie | Vorstand Freunde Abrahams e.V.
- Ioanna Zacharaki | SPD Bürgermeisterin von Solingen
- KR Prof. Dr. Zeilinger | Der Beauftragte für Ethik im Dialog mit Technologie und Naturwissenschaft Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern
- Simone Zippel | Klimaschutzbeauftragte Stadt Erlangen
Quellen
1 Prof. Dr. Angelika Vetter und Prof. Dr. Frank Brettschneider (2023), Demokratiezufriedenheit und Institutionenvertrauen in Baden Württemberg, Z Politikwiss 33, 583–607. https://doi.org/10.1007/s41358-023-00358-2
2 „Einander zuhören, miteinander reden und klug entscheiden, das steht für uns im Fokus unserer politischen Arbeit. Wir wollen deshalb eine Koalition mit den Bürgerinnen und Bürgern in unserem Land eingehen. Sachsengespräche, Runde Tische, Bürgerforen, Kabinettssitzungen in allen Regionen: So bleiben wir vor Ort im Gespräch.“ (Zeilen 91-94, Koalitionsvertrag für die 8. Legislaturperiode des Sächsischen Landtages 2024 bis 2029).
3 Bürgerbeteiligungen und Bauernrat unter CSU-Bürgermeister Hans-Jörg Birner: https://www.ale-oberbayern.bayern.de/314416/index.php.
4 Z.B. das Format Wahlkreistag: https://hallobundestag.de/.
5 Beteiligung zum „Fahrplan Klima-Aufbruch“ in Erlangen mit Vertreterinnen und Vertretern aus Bürgerschaft, Wirtschaft, Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Verwaltung: https://www.klima-aufbruch.de/.
6 Allianz Vielfältige Demokratie: Qualität von Bürgerbeteiligung. Zehn Grundsätze mit Leitfragen und Empfehlungen: https://allianz-vielfaeltige-demokratie.de/wp-content/uploads/2019/05/Qualitaet_von_Buergerbeteiligung_final-2.pdf.
7 Prof. Dr. Frank Brettschneider (2020). Bau- und Infrastrukturprojekte. Dialogorientierte Kommunikation als Erfolgsfaktor. https://doi.org/10.1007/978-3-658-28235-6.
8 VDI 7001 Kommunikation und Öffentlichkeitsbeteiligung bei Planung und Bau von Infrastrukturprojekten: https://www.vdi.de/richtlinien/unsere-richtlinien-highlights/vdi-7001.
9 Shelley Boulianne (2018). Mini-publics and Public Opinion: Two Survey-Based Experiments. Political Studies, 66(1), 119–136. https://doi.org/10.1177/0032321717723507.